Wie Reinblau mit Holacracy das New-Work-Konzept lebt

Um zu verstehen, wie und warum etwas funktioniert, lohnt der Blick von außen. Der Journalist Mathias Schwardt, der zuvor noch nie von Holacracy gehört hatte, hat sich mit Reinblau-Genossen unterhalten. Hier seine Einblicke in die Struktur und Arbeitsweise von Reinblau.

Man kennt das ja: Die Chefin oder Chef gibt eine Richtung vor, selbst wenn sie grundfalsch sein kann. Und die anderen im Betrieb machen nur das, wofür sie angestellt sind. Motivierend ist das nicht unbedingt. Doch es gibt moderne Alternativen. Reinblau hat sich die Organisationsstruktur Holacracy gegeben, die flache Hierarchien und wesentlich schnellere Entscheidungen ermöglicht. Transparenz, Kommunikation und hohe Eigenverantwortung sind das A und O. Wer wofür zuständig ist, kann sich ändern, Ideen werden gefördert statt abgewürgt. Dazu gehört auch, dass man Fehler machen darf. Mehr noch: Sie sind sogar bis zu einem gewissen Grad erwünscht.

Klar, es wäre für die Genossenschaft das Naheliegendste gewesen, sich die traditionell hierarchische Unternehmensstruktur zu geben. Doch das New-Work-Konzept Holacracy, das ohne institutionalisiertes Führungspersonal auskommt, ist für die Berliner Webagentur schlichtweg ideal. Um zu verstehen, warum Reinblau sich für den alternativen Weg entschieden hat, muss man die Geschichte der Webagentur kennen.

Im Podcast „Wenn heut schon morgen wär“ erzählt Luca, warum wir uns für die Genossenschaft als Unternehmensform entschieden haben und wie wir nach holakratischen Prinzipien arbeiten:

Alle Gründungsmitglieder waren Freelancer

Schon vor der Gründung vor fünf Jahren hatten viele der heutigen Teilhaberinnen und Teilhaber zusammengearbeitet. Alle waren Freelancer und es damit gewohnt, eigenverantwortlich zu handeln. Als die Reinblau-Idee entstand, „haben wir uns die Frage gestellt, wer was entscheiden darf“, sagt Gründungsmitglied Dietmar (50). „Es gab zwar in den Kundenprojekten eine klare Rollenverteilung und klare Prozesse. Aber in der internen Arbeit hatten wir das nicht.“ Das habe zu Konflikten geführt. Also holten die Gründer die Beraterin Juliane Röll ins Boot.

Sie stellte den Holacracy-Ansatz vor und begleitete das Team bei dessen Umsetzung. „Es war harte Arbeit, das Kernwissen aufzubauen“, erinnert sich Dietmars Reinblau-Kollege Ronald (45). „Wir haben uns unsicher gefühlt.“ Folgerichtig blieben nicht alle bei der Stange. Doch die meisten freundeten sich mit dem Konzept an. „Und inzwischen hat sich eine Kultur entwickelt, die einigen bei Reinblau mehr taugt als anderen.“ Aber von allen akzeptiert wird.

Alle Prozesse werden regelmäßig optimiert

Die Arbeit sowohl intern als auch mit Kunden verläuft iterativ. Das heißt, Prozesse und Zwischenergebnisse werden in kurzen Zeitabständen – bei Reinblau im Zwei-Wochen-Rhythmus – gemeinsam hinterfragt und wenn nötig neu justiert und optimiert. Die Basis dafür ist Scrum, ein ursprünglich für den IT-Bereich entwickeltes Modell für agiles Projektmanagement. Dazu passt die holakratische Genossenschaftsstruktur perfekt. Unterworfen sind die Reinblau-Beschäftigten nur einem selbst aufgestellten Regelwerk, das vor allem die Arbeitsprozesse und die Rollen der Kolleginnen und Kollegen festhält und strukturiert. Starr ist es nicht, auf Antrag sind stets Änderungen möglich. „Die schönste Regel ist: Man darf jede Regel brechen, wenn das mehr Nutzen als Schaden bringt“, sagt Dietmar. Ronald ergänzt: „Regeln dienen nicht dazu, uns zu beschränken. Es entstehen immer wieder neue Rollen und Themen.“

Alle Rollenverantwortliche entscheiden eigenverantwortlich

Das Ziel ist es, Talente optimal zu nutzen. Das Expertenwissen ist groß: Es gibt Scrum-Master wie Dietmar und Ronald, andere arbeiten in der Webentwicklung, wieder andere sind für Kommunikationsdesign oder den IT-Bereich zuständig. Gearbeitet wird je nach Projekt jeweils autonom in verschiedenen Kreisen. „Es gibt crossfunktionale Teams. Das heißt, zum Beispiel Designer und Entwickler arbeiten zusammen, nicht nacheinander“, erläutert Dietmar. Ansprechpartner für Kunden ist jeweils eine Person, die als Projektleiter fungiert.

Intern jedoch sind die Kolleginnen und Kollegen gleichberechtigt. Damit der Ablauf bei Reinblau reibungslos funktioniert, sind klare Rollen definiert. „Aber wie viele es gibt, ist unsere Sache.“ Ebenso, wer sie ausfüllt. Dietmar beispielsweise kümmert sich um die Agentur-Website und betreut sie redaktionell. Alle Rolleninhaber*innen entscheiden eigenverantwortlich. Was auch heißen kann, andere hinzuzuziehen. „Eine Rolle zu haben, bedeutet nicht, dass die Person es selbst macht, sondern, dass sie dafür sorgt, dass es gemacht wird.“ Passieren Fehler, so werden diese laut Dietmar, nicht verteufelt, sondern sogar „begrüßt“. Weil man aus ihnen lernt.

Holacracy verlangt ein gutes Miteinander

Die holakratische Struktur beschleunigt die Prozesse, während es in traditionellen Unternehmen aufgrund der zu beachtenden Hierarchien behäbiger zugeht. Allerdings verlangt Holacracy ein gutes Miteinander: „Wenn ich ahne, dass ein Websiteeintrag für jemanden problematisch ist, tue ich gut daran, die Person vorher anzusprechen.“ Was die Frage aufwirft: Wie wird bei Reinblau mit Konflikten umgegangen? Die Agentur versucht, dass es erst gar nicht dazu kommt. Spannungen im Kreis der Kolleginnen und Kollegen sollen frühzeitig beseitigt werden. Die „positive Routine“ (Ronald) hilft dabei. Jeden Morgen findet in dem von ihm geleiteten Projekt z. B. von 10:15 Uhr an ein 15-minütiges Meeting statt. Und auch während weiterer Online-Zusammenkünfte, besonders der Zwei-Wochen-Retrospektive, „gibt es konstruktive Dinge, die wir lösen können“.

„Es geht ums Motivieren“

Dietmar fügt hinzu, es gehe um die Bereitschaft, gut miteinander umzugehen. „Spannungen treten auf, wenn ich sehe, da macht jemand was, und ich finde das nicht gut.“ Was also tun? Dietmars Beispiel: „Wenn jemand was twittert und ich ärgere mich darüber, ist das eine Spannung. Das verlangt erstmal von mir, mich zu hinterfragen, warum löst das bei mir eine Spannung aus? Vielleicht habe ich gerade einen Blogpost zum selben Thema in Arbeit und der Tweet kommt aus meiner Sicht zu früh. Dann schlage ich die Regel vor, dass ich informiert werden möchte, bevor jemand twittert, damit ich darauf reagieren kann.“ Ronald nickt und sagt: „Es geht immer um die Haltung, die man für das Augenhöheprinzip braucht.“ Und dann wieder Dietmar: „Es geht viel ums Motivieren. Was wir nicht so gut können, ist sanktionieren.“

In Meetings lautet das Ziel bei Reinblau nicht, unbedingt Einstimmigkeit im Gremium herzustellen. Denn Konsens verlangsamt die Entscheidungsfindung. Stattdessen wird Konsent angestrebt. Macht jemand einen Vorschlag, können Einwände erhoben werden, sagt Dietmar. „Der Einwand muss dann integriert werden, und wir schauen, dass wir eine Lösung finden, die für beide Seiten passt. Das ist ein großer Vorteil.“ Laut Ronald verhindert dieses Vorgehen nämlich, dass etwa eine neue Idee einer Kollegin oder eines Kollegen im Keim erstickt wird. „Wir wollen Courage fördern.“ Nachjustieren kann man immer, dafür hat man ja die Holakratie.

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